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AutorenbildHaeggar Lighthouse

Zum Glück zwingen? (Anstrengung)

Haeggar sitzt mit seinem Kollegen Fiete in der Hafenkneipe beim Feierabend-Bier. Wie so oft (eigentlich ausschliesslich) dreht sich das Gespräch um Schule, Schülerinnen und Schüler, Eltern.


Im Dorf hinterm Deich ist die Schule altersdurchmischt organisiert, und die Lernenden haben pro Woche mehrere Lektionen die Möglichkeit teilautonom zu lernen bzw. zu arbeiten. Sie können das Fach, oft auch den Arbeitsort und die Sozialform wählen. Und als Lehrperson kannst du dann alles beobachten. Die einen arbeiten in Kooperation, nutzen die Zeit effizient und reduzieren ihre Hausaufgabenzeit auf ein Minimum. Die anderen nutzen die Zeit vor allem um mit Gleichgesinnten ‚abzuhängen‘. Manchmal mutet es an wie eine Runde Beamten-Mikado (Wer sich bewegt, hat verloren.). Wenn sie ihre Arbeitsaufträge trotzdem noch rechtzeitig abgeben wollen, dann verschiebt sich die Arbeitsphase nach daheim, oft unter Beteiligung der Eltern, die höchstens halb so entspannt sind wie ihre Sprösslinge. Um diese Phänomene - Outsourcing der Arbeit, Autonomiegestaltung - drehte sich der Diskurs zwischen Haeggar und Fiete.


Fiete schüttelt wiederholt und resigniert den Kopf. "Ich kann sie nicht mehr hören, die reformerischen Schlagwörter wie Selbstverantwortung oder selbstbestimmtes Lernen."

Haeggar, der der Schule von heute auch kritisch gegenübersteht, im Gegensatz zu Fiete aber eher mehr Reformen wünscht, erwidert: "Vielen Kindern und Jugendlichen fehlt einfach die Erfahrung, dass eine vollbrachte Leistung, ein überwundenes Hindernis, eine überstandene Anstrengung ein positives Gefühl auslöst."

Dieses Argument nimmt Fiete auf und nutzt den Schwung in fernöstllicher Nahkampfmanier zum Gegenschlag. "Du hast absolut recht mit der Anstrengung und dem Wohlbefinden. Aber wie du schon sagtest, das Glücksgefühl kommt NACH der Anstrengung. Und viele Kinder und Jugendliche können sich selbstgesteuert gar nicht mehr anstrengen. Sie brauchen deshalb die strengen Lehrpersonen, die etwas von ihnen verlangen - ohne wenn und aber, mit 'sauber und bis morgen'.

Auf die Schnelle fällt Haeggar keine Antwort ein.



Praktizierter Fleiss hängt für mich auch stark mit der Motivation zusammen. Und ich erlebe in der Schule und im Sport durchaus Kinder und Jugendliche, die sich sehr wohl anstrengen. Warum also diese Unterschiede?

Deci und Ryan haben mit der Selbstbestimmungstheorie ein Modell entwickelt, das erklären soll, warum jemand wie viel Energie und Tatkraft investiert. Von ihnen stammt auch die ziemlich bekannte Unterteilung in intrinsische und extrinsische Motivation.


(Auszug aus Lernen und Persönlichkeit 2.0, Kap. 7)

Autonome oder selbstbestimmte Motivation definieren sie so: „What you’re doing when you’re feeling a full sense of willingness, volition and choice.“ Wenn man also das tut, was man will, was einen interessiert, was man selber ausgewählt hat, dann wird man durch die eigene (intrinsische) Motivation angetrieben. Die ‚Belohnung’, die Befriedigung oder die Freude stecken schon in der Beschäftigung. Die Motivierungsquelle sitzt in der Handlung. Die Theorie besagt, „dass intrinsische Motivation durch das Erleben (bzw. das Gefühl) von Kompetenz gefördert wird […] und nur auftritt, wenn sich die handelnde Person als hinreichend autonom (oder selbstbestimmt) wahrnimmt.“ Autonom meint in diesem Zusammenhang aber nicht völlige Unabhängigkeit, sondern die Übereinstimmung von dem, was man muss und dem, was man wichtig und richtig findet.


Die Variante Zwang von Fiete hat also nichts mit Motivation, die von innen kommt, zu tun. Die Unterscheidung intrinsisch-extrinsisch motiviert ist aber nicht trennscharf, es sind eher die Endpunkte eines Kontinuums. Je nach Erziehung kann der äussere Zwang aber durchaus als 'richtig' empfunden werden. Es kommt darauf an, wie sehr man die Tugenden Fleiss und Gehorsam in sein Selbst übernommen hat.


Bei der „integrierten Regulation“ ist das Verhalten in ‚Fleisch und Blut’ übergegangen. Sich so zu verhalten fühlt sich absolut richtig und stimmig an, entspringt also einem inneren Bedürfnis und ist demnach der autonomen Motivation zuzurechnen. Diese Form der Regulation „ist das Ergebnis der Integration von Zielen, Normen und Handlungsstrategien, mit denen sich das Individuum identifiziert und die es in das kohärente Selbstkonzept integriert hat.“

„Identifizierte Regulation“ ist immer noch in der Nähe von „autonomer Motivation„. Das Ziel oder die Vorgabe ist akzeptiert, weil man es als richtig und wichtig anerkennt. „Diese persönliche Relevanz resultiert daraus, dass man sich mit den zu Grunde liegenden Werten und Zielen identifiziert und sie in das individuelle Selbstkonzept integriert hat.“


Es gibt also immer noch viele Lernende, die kein Problem damit haben, dass die Lehrperson vorgibt, was wie bis wann zu erledigen ist. Ebenso ist diese Haltung bei sehr vielen Eltern vorhanden, die deshalb von den Lehrer*innen ein bestimmendes Verhalten einfordern. Es gibt aber - nach meinen Beobachtungen immer mehr - Kinder und Jugendliche, die schlecht bzw. renitent auf äussere Bestimmung reagieren.


Die „externale Regulation“ besteht darin, dass man macht, was man machen muss, was einem aufgetragen oder befohlen wurde. Man möchte die externale Belohnung erhalten oder eine Bestrafung vermeiden. Diese vollständig externale Regulation kann natürlich sehr wirksam sein. Das Problem liegt darin, dass diese Motivation nur solange aufrechterhalten wird, wie der äussere Zwang besteht. Die Ausdauer ist also begrenzt, der Transfer des Verhaltens kann nicht stattfinden, und die Qualität der Handlungsergebnisse ist nicht auf dem bestmöglichen Level. Zudem erzeugt diese Motivationsquelle keine positiven emotionalen Gefühle.


Vor allem der letzte Satz wäre ein klarer Gegenschlag gegen das Argument von Fiete. Allerdings kennen wir Beispiele (vor allem aus dem Sport), in denen der Lehrende (bzw Trainer) vorgibt, was der Schützling zu tun hat, und dieser tut es - wenn auch nicht immer mit Begeisterung im aktuellen Moment, wohl aber mit Befriedigung im Nachhinein. Warum?

Der Duden beschreibt Anstrengung so: Bemühung, Kraftaufwand, Einsatz für ein Ziel. Und hier finden wir einen Teil der Antwort auf die Warum-Frage. Das Ziel ist sehr entscheidend!


Im Zusammenhang mit Selbstregulation (als Voraussetzung für selbstgesteuertes Lernen) „wird regelmässig auf die zentrale Rolle der Ziele für die Eigensteuerung des Lernverhaltens verwiesen.“

Diese Zielorientierungskategorien bestimmen, was der Schüler oder die Schülerin subjektiv als Erfolg oder Misserfolg taxiert. Imhof beschreibt aus der Sicht der Motivationsforschung zwei Zielorientierungen.

Bei einer Performanz- oder Leistungs-Zielorientierung versucht die Person besser zu sein als andere oder eine gute Beurteilung zu bekommen. Je nachdem kann die Annäherungskomponente im Vordergrund stehen (das eigene Können zeigen) oder die Vermeidungskomponente (Fehler und Defizite verbergen). Diese Zielorientierung können wir mit den Stichworten ‚statisches Selbstbild’ und ‚extrinsische Motivation’ in Verbindung bringen.

Personen mit einer Lern-Zielorientierung möchten vor allem ihr Wissen vergrössern oder ihre Fähigkeiten steigern. Die Motivation ist deutlich autonomer und das Selbstbild zeichnet sich durch Entwicklungsstreben aus. Es überrascht deshalb nicht, „dass Lernzielorientierung für effektives Lernen und Arbeiten vorteilhaft ist.“

Auf dem Weg zum Ziel sind die Schülerinnen und Schüler permanent mit störenden oder lohnenden Ablenkungen konfrontiert, links und rechts vom Wegrand wartet kurzfristiger Lustgewinn in mannigfacher Form (schwatzen, Handy, PC…). Und deshalb kommt der Selbstkontrolle eine so wichtige Rolle zu. „Selbstdisziplin determiniert den Schul- und Studienerfolg (mehr noch: den Lebenserfolg) weitaus stärker als jede andere Variable.“


Ein weiterer Teil der Erklärung ist die Beziehung, die vor allem aber nicht nur von Hattie als so wichtig herausgestrichen wird.


Roth unterstreicht aus neurologischer Sicht die Wichtigkeit der Lehrer-Schüler-Beziehung. Freundlichkeit, Wertschätzung, Vertrauen und Zutrauen, all das sind Faktoren, die dem kindlichen Hirn signalisieren: Hier lohnt sich das Lernen.

Selbstregulation geht aber einen Schritt weiter, denn das Selbst (das Extensionsgedächtnis) muss Beruhigung aktiv produzieren. Das bedeutet, dass das Selbst mit diesen oben erwähnten tröstenden, beruhigenden, positiven Impulsen der Bezugsperson verknüpft werden muss. Neurologisch werden Verknüpfungen dann gebildet, wenn die beiden Dinge quasi gleichzeitig passieren. Es muss also das Selbst in der Trost spendenden Situation aktiv sein. Und was das bedeutet, schreibt Kuhl in diesem – wie ich finde – sehr bedeutungsvollen Satz: „Das Selbst einer Person ist solange aktiviert, wie ein Mensch sich als Person ernst genommen und verstanden fühlt.“ Und das geschieht durch Blickkontakt oder durch die Unmittelbarkeit einer Handlung oder eines emotionalen Ausdrucks als direkte Reaktion auf den Ausdruck von Gefühlen oder Zuständen des Kindes. Aufmunternde oder beruhigende Worte bleiben an der Oberfläche oder in der Situation verhaftet, wenn der Empfänger nicht das Gefühl hat, dass er verstanden wird.

„Hier liegt die wissenschaftliche Erklärung für die immense Bedeutung der Beziehungsqualität für alles Lernen, das von Selbstkompetenzen abhängig ist.“

Diese Verknüpfung von positiven Erfahrungen mit dem Selbstsystem nennt die PSI-Theorie Systemkonditionierung.

Auch Kuhl erwähnt immer wieder die ausserordentlich grosse Bedeutung der Beziehung.

„Persönliche Begegnung, liebe- und verständnisvolles Eingehen auf einen Menschen als Ganzes ist die Schlüsselerfahrung, durch die das Selbst die Fähigkeit erlangt, den Wechsel zwischen gegensätzlichen Emotionen ‚selbständig‘ herbeizuführen.“

„Die Entwicklung von Selbstkompetenzen hängt massgeblich von der Qualität der Beziehung zwischen Lernendem und Lehrendem ab.“


Zusammenfassend würde ich sagen, dass die einfordernde Lehrperson durchaus sinnvoll und hilfreich sein kann. Ohne dass aber das Kind oder der Jugendliche beteiligt ist (durch Sinn, Ziel oder Beziehung), verkommt die Forderung zu reiner Machtausübung. Nachhaltiger ist meiner Meinung nach Sinnstiftung.

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1 comentario


juliabis
02 ene 2020

Dieser Zusammenfassung kann ich voll und ganz zustimmen.

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