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AutorenbildHaeggar Lighthouse

Vernunft

Ein gellender Schrei zieht durch das idyllische Reetdachhaus. Haeggar findet seine Frau auf einem Schemel stehend, mit panischem Gesichtsausdruck in die Ecke zeigend und piepsig ‚Maus!‘ rufend. Haeggar, ein Freund logisch-argumentativer Diskussionen, setzt sich erstmal und wendet sich beruhigend (das ist zumindest sein Ansinnen) an seine Frau.

  1. Die Maus hat bestimmt riesige Angst vor einem grossen Lebewesen, das markerschütternd schreit und mit den Vorderbeinen schlenkert und wedelt.

  2. Wenn es dennoch zum Äussersten kommen sollte, dürftest du in einem Kampf erhebliche Grössen- und Gewichtsvorteile haben.

  3. Sollte es dennoch zu einer minimalen Bisswunde kommen, so ist dein Organismus Tetanus-geschützt.

Zufrieden mit seinen logisch kaum zu widerlegenden Argumenten verschränkt Haeggar seine Hände vor dem Bauch und schaut erwartungsvoll auf seine Frau. - Die Situation beruhigt sich aber erst, als Haeggar - mit einem Besen bewaffnet - seine Frau aus der Küche in die Stube eskortiert und ihr dort einen eiskalten Klaren einschenkt. Haeggar fragt sich, warum Logik so wirkungslos sein kann.




Vernunft

Gerhard Roth, ein Hirnforscher (siehe auch Rubrik 'Vorträge'), schreibt in einem Artikel: „Wir verändern uns nur in dem Masse, in dem unser Gehirn bereit dazu ist, das heisst, sich irgendeine Art von Belohnung verspricht. Einer der grössten Irrtümer in der Erziehung und der Personalführung ist es, zu glauben, Menschen würden ihr Verhalten dann ändern, wenn wir ihnen unsere logisch zwingenden Argumente nur hinreichend deutlich vermittelt haben. Dasselbe gilt für den Appell an die Einsicht. Das Gehirn fragt immer, bewusst oder unbewusst, ‚Was kriege ich dafür, dass ich mich ändere?‘ - und wenn es darauf keine gute Antwort gibt, dann ändert sich der Mensch eben nicht.“ (Querverweis - Maja Storch, ZRM, Strudelwurm)

Ebenen der Persönlichkeit

Gerhard Roth unterscheidet vier Ebenen der Persönlichkeit: die untere, mittlere und obere limbische Ebene und die kognitiv sprachliche Ebene.

Die untere limbische Ebene umfasst die angeborenen und unbewussten Reaktionen und Antriebe. Diese Ebene ist genetisch und teilweise durch vorgeburtliche Einflüsse vorbestimmt. Diese Grundausstattung - unser Temperament - ist durch Erfahrung oder Erziehung kaum zu beeinflussen. Offenheit, Selbstvertrauen, Kreativität, Pünktlichkeit, Umgang mit Risiken, Ordnungsliebe, Zuverlässigkeit, Verantwortungsbewusstsein zählt Roth zu den hier angesiedelten, grundlegenden Persönlichkeitsmerkmalen. Einige dieser offenbar stabilen Merkmale sind Bestandteile der überfachlichen Kompetenzen bzw. des Arbeits-, Lern- und Sozialverhaltens (ALSV) und gehören demnach zum Lehrplan Volksschule und zum Beurteilungsauftrag. Kann oder darf man Verhaltensweisen beurteilen und bewerten, wenn sie angeboren sind? Ist es verlorene Liebesmüh, wenn Eltern und Lehrpersonen ihre Schützlinge zu Pünktlichkeit oder Ordnungsliebe anleiten und anhalten? Ist Selbstvertrauen nicht etwas, das sich aus Erfahrungen speist?

Die mittlere limbische Ebene wurde gebildet durch emotionale Konditionierung im frühesten Kindesalter (also nicht erinnerbar). Elementare Emotionen wie Furcht, Ekel, Neugierde, Hoffnung, Enttäuschung uam wurden an individuellen Lebensumständen und Erfahrungen geknüpft. Das Kind hat zum Beispiel gelernt wie Mimik, Gestik oder Körperhaltung zu deuten sind. Die ersten beiden Ebenen bilden zusammen den Kern der Persönlichkeit. Dieser Kern bildet sich in den ersten Lebensjahren. Er ist später nur über starke emotionale oder lang anhaltende Einwirkungen veränderbar. Wenn ein Kleinkind mit einem Hund aufwächst, mit ihm spielt, sich an ihn kuschelt, dann wird es auch später keine Angst vor Hunden haben. Wurde ein Kleinkind aber von einem Hund angekläfft und bedroht, dann setzt sich diese Erfahrung als Furcht vor Hunden fest. Wächst ein Kind in einem anregungsarmen Umfeld auf, dann erlahmt seine Neugier - was fatal ist für die Lernfreude. Einmal mehr wird die Aussage wissenschaftlich bekräftigt, dass die ersten Lebensjahre prägend und elementar wichtig sind.

Auf der oberen limbische Ebene ist abgelegt, was wir bewusst emotional-sozial gelernt haben, um uns an unsere Umwelt anzupassen. Zeitlich geschieht dieses Lernen in der Kindheit und Jugend. Durch die gemachten Erfahrungen bilden sich Gewinn- und Erfolgsstreben, Anerkennung, Liebe, Freundschaft, Moral, Ethik, Hilfsbereitschaft. Hier wird festgelegt, auf welche Art unsere Kerneigenschaften in Bezug auf das Streben nach Macht, Bindung und Leistung (siehe PSI Theorie: Motivgruppen) in Einklang gebracht werden mit den Erfordernissen und Normen. Da die oben aufgeführten Eigenschaften sich im emotional-sozialen Umfeld ausgebildet haben, können sie sich auch nur auf dieser Basis verändern. Dieses Zeitfenster deckt sich ziemlich mit der Schulzeit. Und deshalb kommt ihr auch eine besondere Bedeutung zu.

Die bewusste Handlungsplanung, die Rechtfertigung unseres Handelns, die Erklärung der Welt läuft ab auf der kognitiv- sprachlichen Ebene. Diese Ebene entwickelt sich relativ spät. Sie verändert sich ein Leben lang, im Wesentlichen durch sprachliche Interaktionen. Auf dieser Ebene lernen wir auch, wie wir uns möglichst positiv und gewinnbringend darstellen. Es kann somit auch zu Disharmonien mit den limbischen Ebenen kommen.

Man kann viel sagen oder versprechen ohne sich daran zu halten.

Veränderbarkeit

Die untere limbische Ebene hat einen grossen Einfluss auf unser Verhalten, ist aber weitestgehend stabil. Auch die mittlere limbische Ebene ist einflussreich. Änderungen hier sind nur mit grossem Aufwand möglich - durch langes Einüben oder durch das Ansprechen von emotionalen Motiven. Die obere limbische Ebene kann durch Dialog und soziale Interaktion verändert werden, hat aber einen geringeren Einfluss auf unser Verhalten. Die kognitiv-sprachliche Ebene für sich alleine wirkt sich gar nicht aus auf unser Verhalten.

Persönliches Fazit

Diese Erkenntnisse von Roth haben mich in meiner Funktion als Pädagoge einerseits ernüchtert. Vieles bringen die Kinder schon mit in die Schule. Andererseits entwickelt sich in der Schulzeit das obere limbische System, wo sich die Kernpersönlichkeit an die Umwelt anzupassen lernt. Es gilt für uns also Grenzen zu setzen, Vorbild zu sein, Vielfältigkeit zu schätzen, sozialen Umgang mitzugestalten, einfühlsam und streng zu sein... - nur Lerninhalte zu vermitteln reicht nicht.

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