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Uwe Jungclaus

Ist das noch Schule - oder erst recht Schule?

Aufgrund seiner eigenen - im Wortsinne zwiespältigen (Schule und Leben sind zwei paar Schuhe) - Schulerfahrungen hat Damian Gsponer sich entschlossen, als Schulleiter einen Lebensraum für Kinder und Jugendliche zu schaffen, der Lernen und Leben miteinander verzahnt. Der Film „Bratsch - ein Dorf macht Schule“ porträtiert diese Institution, die sich nach seinem Leiter schlicht gd-Schule nennt.

„Nur wo x draufsteht, ist auch x drin.“ Kelloggs und Nutella verwenden diesen Werbeslogan und ich formuliere ihn um in die Frage: „Ist auch Schule drin, wo Schule draufsteht?“ Auch Gsponer hat sich gefragt, aus welchen Zutaten die Schule im Wesentlichen besteht und er kam auf vier Elemente: Noten, Fächer, Unterricht und ein Belohnungs-/Bestrafungssystem. Diese vier Grundpfeiler hat er kurzerhand gekappt - ein radikaler Schnitt. Ist das dann noch Schule? Olaf Axel Burow meint in seinem Buch "Bildung 2030", die Schule der Zukunft heisse wohl nicht mehr Schule. Aber welcher Ausdruck wäre treffender? Vielleicht verwenden wir doch weiterhin das bekannt Wort, füllen es aber mit neuem Inhalt.

Anstelle dieser vier Begriffe hat Gsponer drei andere (schon lange bekannte) Elemente ins Zentrum seiner Schule gestellt: Kopf, Herz und Hand. Eine seiner zentralen Aussagen im Film lautet in etwa so: Wenn wir nur den Kopf der Kinder ausbilden, dann werden sie als Erwachsene zukunftsweisende Entscheide auch nur mit dem Kopf treffen. Und wir werden in der Zukunft Herz (Empathie, Solidarität, Toleranz) und Hand (Handwerker- und Fachkräftemangel) dringend benötigen.


In Bratsch, dem kleinen Walliser Bergdorf, in dem Gsponer ein leerstehendes Schulhaus beziehen konnte, beschäftigen sich die Kinder hauptsächlich mit Projekten, die ihr Leben, aber häufig auch das der Dorfbewohner, tangieren. In der Gründungszeit waren dies Spielplatz, Garten und Lager. Selbstredend werden hier viele schulische Themen gestreift. Wobei gestreift nicht der richtige Ausdruck ist, denn durch den direkten Umweltbezug und unmittelbaren Nutzen gewinnt das Thema automatisch an Relevanz und Tiefe.

Eindrücklich ist auch der Einbezug von externen Personen. Der Chef der Baukommission wird an eine Sitzung eingeladen, der Schreiner hilft beim Aufbau des Hühnerstalls und die Nachbarin zeigt, wie man Kartoffeln pflanzt. Auch hier zeigt sich eine Verzahnung von Schule und Leben.

Ist das nun Bullerbü oder die heile Welt? Nein, natürlich nicht. Es gibt Reibereien unter den Schüler*innen, endlose Kämpfe gegen die Mühlen der Bürokratie und ständige Sorgen um die Finanzierung… Aber auf Seiten der Lehrenden und der Lernenden fallen viele Punkte weg, die in der klassischen Schule oft für Stress sorgen. Und es ergeben sich für die Lernenden viele natürliche Gelegenheiten, wo sich Interessen oder Begabungen zeigen können.

 

Und dann steht man nach dem Film im Foyer und fragt sich: Ist das in der Volksschule auch möglich? (Gsponers Ansinnen war es übrigens nie eine Privatschule zu gründen. Es war der Ausweg, weil man ihn im Rahmen der öffentlichen Schule nicht gewähren liess.)

  • Auf Noten könnte man heute weitestgehend verzichten. Der neue Lehrplan Volksschule sowie viele Beurteilungskonzepte geben hier grünes Licht. Es bleibt noch die obligatorische Zeugnisnote, aber hier kann man auch einen vernünftigen Umgang damit finden.

  • Bonus-/Malus-Systeme haben einen eingeschränkten Nutzen und bergen die Gefahr, dass die Beteiligten nur noch etwas tun, wenn sie etwas bekommen bzw. etwas Unangenehmes vermeiden können. Darauf könnte man also auch leicht verzichten.

  • Fächer zu streichen scheint mir schon etwas schwieriger. Obschon - der offene Stundenplan erlaubt es in Jahreslektionen zu denken. Man müsste dann allerdings das Ganzheitliche der Projekte wieder aufdröseln in Mathe, Deutsch oder Textiles Gestalten...

  • Kein Unterricht mehr? Nimmt man uns Lehrpersonen da nicht unser Kerngeschäft weg? „Tempora mutantur, nos et mutamur in illis“. Die Zeiten ändern sich und wir uns in ihnen, meint der Lateiner - und irrt sich dabei zum Teil. Es gab die Zeit des Unterrichts, wo die Lehrperson ex cathedra ihre Kohorten in einzelnen Fächern unterwies. Diese Zeiten sind aber vorbei. Die Rolle der Lehrperson hat sich geändert. Sie hat keine ‚potestas‘ mehr (Macht und Einfluss per Amt), ihr bleibt die ‚auctoritas‘, ihr natürliches Ansehen. Und das muss sie sich erarbeiten durch Empathie, durch Vertrauen, durch Beziehungsgestaltung, durch Beratungsfähigkeiten, durch Selbstreflexion und den Umgang mit (eigenen) Fehlern.

Unter dem Strich könnte man also folgern, dass man auch im Rahmen der Volksschule in die Nähe der dg-Schule kommen könnte. ‚Bratsch macht Schule‘ - der Titel kann Programm sein.

 

Ich habe schon verschiedenste Alternativschulen besucht. Ich wollte sie dann untereinander bzw mit der Volksschule vergleichen und eine Rangliste erstellen. Wie ich bald merkte - ein gleichermassen unnötiges wie unmögliches Unterfangen. Denn woran soll man die verschiedenen Modelle messen? Naturgemäss setzen all diese Alternativen ja verschiedene Schwerpunkte. Ist die Quote an Gymnasiast*innen ein Gütesiegel oder der Anteil an handwerklichen Berufen? Sind die späteren Einkommenskategorien entscheidend oder das entwickelte Selbstbild?

Hüther sagt, ein Leben kann nur gelingen, es kann nicht ‚gemacht‘ werden. Die Schule kann also nur dazu beitragen, dass sich die Lernenden so entwickeln können, dass sie eine intakte Chance darauf haben, dass ihnen ihr Leben gelingt. Dazu gehört, dass sie entwickeln dürfen wer sie sind bzw wer sie sein wollen.

Und ich bin überzeugt, diese Chance bekommen sie in Bratsch!

 


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